Bei einem Fotoshooting lerne ich vor einigen Jahren Isabella und ihre Mama Angela kennen. Isabella kommunizierte nicht mit mir. Kein Wort, kein Blick, keine Reaktion. Isabella hat Mutismus, eine Angststörung. Sie verstummt, ist ängstlich und gehemmt, wenn sie jemand anspricht. Ich stelle in Gesprächen immer wieder fest, dass nahezu niemand diese Störung kennt, weshalb ich Angela gebeten habe, ein paar Fragen zu beantworten, Fragen wie: Wie war die Schwangerschaft? Wie habt ihr das gemerkt? Was tut man dann? Kann man das therapieren? Wird Isabella das irgendwann überwinden?

Angela war sofort bereit, mich dabei zu unterstützen, Mutismus ein bisschen bekannter zu machen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr euch die Zeit nehmt, es zu lesen.

 

„Als sie mit 2,5 Jahren immer noch panisch erstarrte wenn vertraute Personen sie ansprachen drängten wir beim Kinderarzt auf Abklärung“

„Nach einer völlig unkomplizierten, traumhaften Schwangerschaft bekamen wir ein recht pflegeleichtes Baby, unser erstes Kind. Das einzig Auffällige war von Anfang an eine ausgeprägte Scheu vor anderen Menschen als uns Eltern, aber das ist ja grundsätzlich nichts Ungewöhnliches. Die Sprachentwicklung verlief völlig normal. Allerdings bemerkten wir, dass sie in Gegenwart anderer Personen nichts sagte und auch nicht spielte. Als sie mit 2,5 Jahren immer noch panisch erstarrte wenn vertraute Personen sie ansprachen drängten wir beim Kinderarzt auf Abklärung. Wir wurden vertröstet, „Schüchternheit ist normal, das verwächst sich“, wir seien eben übernervöse Erstlingseltern. Erst ein Arztwechsel brachte uns die Überweisung ins Sozialpädiatrische Zentrum, wo sofort selektiver Mutismus diagnostiziert wurde. Zunächst waren wir zwiegespalten: einerseits hatten wir endlich eine Begründung für ihr Verhalten, andererseits fragten wir uns nach der Ursache der Erkrankung. Früher glaubte man, selektiver Mutismus würde immer durch ein Trauma (Unfall, Missbrauch…) ausgelöst. Aber sie hatte definitiv nichts Schlimmes erlebt. Inzwischen geht man davon aus, dass eine genetische Veranlagung besteht. Dies trifft in unserem Fall zu, in der Familie des Vaters gibt es viele eher stille Menschen, eine entfernte Verwandte ist auch vom selektiven Mutismus betroffen. Bei Mutisten ist wohl die Reizschwelle des Angstzentrums im Gehirn verringert. Das heißt, es reagiert viel früher als üblich und nötig.

Isabella Baby
Durch die frühe Diagnose konnte sie schon mit 3 Jahren mit einer Therapie beginnen. Leider sind Therapeuten, die sich mit selektivem Mutismus auskennen, in unserer Gegend eher selten. Nur aufgrund sehr verständnisvoller Arbeitgeber lies sich eine wöchentliche Therapie mit unserer Arbeitszeit koordinieren. Die Therapeutin gab in erster Linie uns Eltern Ratschläge, wie wir Isabellas Verhalten nicht noch negativ verstärkten. Ein Beispiel: wird sie beim Einkaufen gefragt ob sie ein Scheibchen Wurst möchte dürfen wir nicht für sie antworten. Sie muss lernen, dass sie selbst kommunizieren muss wenn sie etwas haben möchte.

Isabella hatte ausgeprägte Trennungsangst, und natürlich fiel es auch uns nicht leicht…

Allerdings hieß und heißt es immer wieder: 3 Schritte vor, 1 zurück.
Der Beginn der Kindergartenzeit war schwierig. Isabella hatte ausgeprägte Trennungsangst, und natürlich fiel es auch uns nicht leicht, sie ganztägig abzugeben mit dem Wissen, dass sie mit den Erzieherinnen nicht kommunizieren wird. Mit den Kindern sprach sie glücklicherweise von Anfang an, das half.  Sie fand ihr „Sprachrohr“, das den Erzieherinnen sagte wenn Isabella Durst, sich wehgetan oder andere Probleme hatte. Glücklicherweise kooperierte der Kindergarten sehr gut und setzte auch die Verhaltenshinweise der Therapeutin um. Das führte zu einer Verbesserung. Erst sprach sie in Anwesenheit der Erzieherinnen leise mit den Kindern, später auch laut, dann reagierte sie auf Fragen mit Gesten oder Kopfschütteln/-nicken.

Isabella Shooting
Den Durchbruch brachte eine 6wöchige Rehabiliationsmaßnahme in einer Sprachheilklinik im Erzgebirge: Nach nunmehr2 Jahren sprach sie das erste Mal mit einer Erzieherin direkt. Zwar erstarrt sie nach wie vor bei manchen Themen (alles was mit Toilette zu tun hat, Schmerzen, konkrete Fragen oder Leistungsforderungen…), aber sie erzählt von Erlebnissen und macht auch in der Vorschule mit. Seitdem hat sich auch ihr Verhalten zuhause verändert. Früher quasselt sie wasserfallartig und ohne Pause; als wolle sie nachholen, was sie tagsüber nicht raus lassen konnte. Mittlerweile hat sich das auf Normalmaß reduziert.
Sie verhält sich inzwischen in ihr vertrauter Umgebung oder Situationen fast unauffällig. Sie ist generell ein liebes und fröhliches Kind. Mit uns spricht sie in Anwesenheit Anderer leise, zuhause auch laut. Nur selten verstummt sie auch uns gegenüber. Der Kreis derer, mit denen sie normalerweise spricht, hat sich erweitert auf die Logopädin, Reitlehrerin, eine der Omas und 2-3 Eltern von Freunden. Manche Eltern, die sie im Kindergarten oder auf dem Spielplatz kennenlernen, bemerken nichts von ihrer Angst. Sie hat es auch schon einmal geschafft, direkt mit einer fremden Mutter zu sprechen (was sie selbst genauso überrascht hat wie uns). Das Erstarren hat ein wenig nachgelassen. Sehr schwierig sind immer noch überraschende oder ungewohnte Situationen. Auf den Fotos vom Kindergartenfotografen zeigt sie immer noch ihr „Mutismus-Gesicht“; leer und ausdruckslos.

Isabella Kindergarten

Außerdem schafft sie es immer noch nicht, Floskeln wie „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“,„Bitte“ und „Danke“ zu sagen. Das wird ihr (bzw. uns) oft als „schlecht erzogen“ ausgelegt. Einige Menschen, die sehen, wie sie mit Kindern plappert, reagieren eingeschnappt, wenn sie ihnen nicht auf ihre Fragen antwortet. „Stur“ oder „zu faul“ sei sie. Die Diagnose sei nur eine Ausrede. Dabei sehe ich, dass sie sprechen will. Ihre Zunge rotiert im Mund, manchmal formt der Mund lautlos Worte. Aber sie kann einfach nicht. Ich vergleiche das mit der Situation, vor seinem Lieblingsstar oder seinem Schwarm zu stehen. Das Herz läuft über, aber der Hals ist wie zugeschnürt und man bringt kein Wort heraus. Man hat Angst, etwas Dummes zu sagen, also sagt man gar nichts. Diese Angst zeigt sich bei Isabella auch bei anderen Dingen, wie Fahrradfahren oder schwimmen. Das möchte sie KÖNNEN, nicht lernen. Viele Dinge übt sie heimlich, um sie uns perfekt zu präsentieren (zuletzt gurgeln).
Wie der Wechsel in die (Regel-)Grundschule nächstes Jahr verlaufen wird wissen wir noch nicht. Isabella sagt selbst sie wisse, dass sie in der Schule sprechen muss, aber sie wisse noch nicht, ob sie es sich trauen werde. Das wird sicher auch von der Lehrerin abhängen.

Isabella heute
Momentan bekommt sie als Therapie lediglich therapeutisches Reiten (was ihr sehr gut tut), wir warten auf einen Platz für eine Verhaltenstherapie. Das kostet Zeit, Nerven (Krankenkasse!) und oft auch Geld. Aber natürlich tun wir alles, um sie gut auf die Zukunft vorzubereiten. Isabella wird die Angst vor dem Sprechen, aber auch vor sozialer Interaktion, nie ganz verlieren. Sie muss lernen, sie zu ertragen und überwinden.
Die Erfahrungen erwachsener Mutigsten zeigen, dass es ohne geeignete Therapie sehr schwierig ist, mit Mutismus ein „normales“ Leben zu führen. Je mehr sich Vermeidungstechniken verfestigen desto schwieriger ist es, die Angst zu besiegen. Und welche Einschränkungen der Mutismus mit sich bringen kann, kann man sich denken: mangelnde Sozialkontakte und Schwierigkeiten bei der Berufswahl bzw. –ausübung sind sicher die herausragendsten, aber schon ein normaler Arztbesuch kann zu einem riesigen Hindernis werden.
Früher wurden Mutismus oft nicht erkannt, ernst genommen oder falsch behandelt. Heute ist es dank der fortschreitenden Forschung möglich, diese Angsterkrankung frühzeitig zu diagnostizieren und zu behandeln. Wichtig ist nur, dass sich Eltern nicht von Aussagen wie „das verwächst sich“ beruhigen lassen. Mutismus verwächst sich eben nicht.

Eure Claudia