Wir haben in unserer Themenreihe „Rund um die Geburt und meine Art zu Entbinden“ schon einige Erfahrungsberichte von Müttern gelesen. Auch unsere eigenen Erlebnisse finden sich darin wieder. Sabrina berichtete ausführlich über die Geburt ihrer Tochter, die so ganz anders verlief, als zunächst gewünscht. Auch Hebammen hatten wir bereits im Interview.

Heute möchten wir das Thema Geburt gern aus einem anderen Blickwinkel sehen und freuen uns, dass wir einen Bericht einer Ärztin aus dem Kreißsaal  veröffentlichen dürfen. Stefanie schildert ihre Sicht der Dinge, geht auf den Klinikalltag ein und berichtet von ihren Erfahrungen und Erlebnissen.

Zum Schutz aller Beteiligten wurden die Namen sowie Orte geändert.

Bericht Klinikalltag im Kreißsaal Arztbericht

Eines Nachts im Kreißsaal

Freitagnacht, 2:35 Uhr – das Telefon klingelt. „Geburt in Kreißsaal 2!“ Ich versuche mir die Müdigkeit aus den Augen zu reiben, was nicht wirklich gelingen will, schlüpfe in Schuhe und Kittel und verlasse das Bereitschaftszimmer. Im Kreißsaal erwarten mich gedämpftes Licht, leise Musik, die Hebamme T. sowie Frau M. und ihr Mann, die das zweite Kind erwarten und die ich vor einigen Wochen in der Schwangerensprechstunde kennengelernt habe. Während Frau M. vor der nächsten Wehe Kraft tankt, die Augen geschlossen, in sich ruhend, werfe ich noch einmal einen Blick in die Papiere. Keine Vorerkrankungen, keine bekannten Risiken, Rhesus positiv, 39+2. SSW, Aufnahme mit Wehentätigkeit und Blasensprung, klares Fruchtwasser, Muttermund bei Aufnahme bereits 6 cm. Im Hintergrund tuckert leise und rhythmisch das CTG. Die nächste Wehe beginnt und Frau M., die bisher auf dem Kreißbett gekniet und sich mit den Unterarmen abgestützt hat, richtet sich etwas auf, hält sich am Rücken des Bettes fest und holt tief Luft…
Drei Wehen später ist das Kind geboren. Winzig, rosig und noch etwas zerknautscht liegt der kleine Junge da und lässt das erste Mal seine Stimme ertönen. Frau M. nimmt ihn erschöpft aber glücklich in die Arme und wir helfen ihr, sich gemeinsam mit dem Baby ins Bett zu legen.
„Herzlichen Glückwunsch!“ flüstere ich ihr dabei zu. Wir lassen die Nabelschnur auspulsieren, der Papa nabelt ab und ich verschwinde mit den Blutröhrchen, die mir die Hebamme in die Hand drückt, im Nachbarzimmer. Ein paar Minuten später kommt auch sie nach draußen. Plazenta vollständig, keine Geburtsverletzungen. Ich gehe noch einmal in den Kreißsaal, um mich zu verabschieden, fülle dann vor der Tür die Papiere aus und verschwinde wieder im Bereitschaftszimmer.

 

geburt Baby Entbindung Kreißsaal Krankenhaus (1)

Von Sinn und Notwendigkeit

Ach ja, traumhaft! Da fragt sich doch beim Lesen jeder: Und wozu muss da jetzt ein Arzt dabei sein? Hier die Antwort einer Ärztin: Muss nicht! Völlig überflüssig! Und der ein oder andere fragt sich vielleicht auch: Muss denn eine solche Geburt im Krankenhaus stattfinden? Auch hier meine Antwort: Muss nicht!

Und doch bin ich froh, dass ein großer Teil der Geburten unkompliziert verläuft und dass die Vorgabe in meiner Klinik dennoch lautet: Zu jeder Geburt wird der/die diensthabende Arzt/Ärztin hinzugerufen. Denn Geburtshilfe ist nicht einfach Medizin nach Lehrbuch. Geburtshilfe hat viel mit Erfahrung und Gespür zu tun und das kann man eben nur entwickeln, wenn man verinnerlicht, wie eine natürliche Geburt verläuft. Wenn man nicht gleich nervös wird, wenn mal eine Zeit lang kein objektiv messbarer Geburtsfortschritt stattfindet und Wehen vielleicht sogar zwischenzeitlich wieder nachlassen. Wenn man oft erlebt hat, wie die Herztöne während der Presswehen wehensynchron mitreagieren, das Baby jedoch trotzdem fit und munter geboren wird. Erst die Erfahrung ermöglicht es uns Ärzten nicht aus Unerfahrenheit und Unsicherheit heraus einzugreifen, wo es nicht nötig oder vielleicht sogar störend ist, sondern genau das zu tun, was ein
guter Geburtshelfer leisten sollte: So viel wie nötig und so wenig wie möglich.

 

Wenn doch alles anders kommt

Dienstag, 16:20 Uhr, kurz nach der Übergabe. Ich starte den Dienst im Kreißsaal und stelle mich den beiden Schwangeren vor, die noch am Anfang ihrer Geburten stehen. Eine Einleitung zwölf Tage über Termin und eine Frau mit vorzeitigem Blasensprung vor vier Stunden, meine Kolleginnen haben mir bei der Übergabe die wichtigsten Details berichtet. „Das Geburtshaus hat angerufen. Die verlegen uns eine Frau mit Geburtsstillstand bei 6 cm.“ berichtet die diensthabende Hebamme K. Ich nicke.
Zwanzig Minuten später wird vom Krankentransport Frau S. gebracht. Begleitet von ihrer Mutter und der Geburtshaus-Hebamme liegt sie wie ein Häuflein Elend auf der Trage und man sieht ihr nur zu deutlich an, dass sie gerade überall lieber wäre als hier. „Bitte kein Kaiserschnitt, bitte kein Kaiserschnitt…“ wimmert sie. Die Hebamme berichtet uns, dass Frau S. bereits seit der Nacht im Geburtshaus ist, die Schmerzen immer weniger tolerieren konnte und nun am Ende ihrer Kräfte ist. Sie habe alles ihr Mögliche versucht, nun aber gemeinsam mit Frau S. entschieden, dass es im Geburtshaus nicht weiter gehe. Dann verabschiedet sie sich. 

Das CTG verrät uns, dass es dem Baby gut geht, und Frau S. lässt mich nach dem Muttermund tasten. Dieser ist etwa 5 cm geöffnet, sehr straff und am Köpfchen lässt sich bereits eine so genannte Geburtsgeschwulst tasten – ein Zeichen dafür, dass das Baby sich bemüht, der Muttermund jedoch einfach nicht nachgeben mag. Wir empfehlen Frau S. eine PDA und möchten ihr so die Chance geben neue Kraft zu sammeln und gleichzeitig für die nötige Entspannung
sorgen, damit der Muttermund sich öffnet. Das habe sie sich eigentlich ganz anders vorgestellt, sagt sie. Die Mutter streichelt ihr den Kopf und spricht leise mit ihr. Schließlich nickt Frau S. Drei Stunden später ist der Muttermund vollständig geöffnet, die PDA wirkt kaum noch und die Wehen sind kräftig. Frau S. wirkt deutlich gestärkt. Sie veratmet, tönt, wechselt die Positionen und presst. Und schließlich hält sie die Belohnung für all die Strapazen in ihren Armen: ein gesundes kleines Mädchen.

geburt Baby Entbindung Kreißsaal Krankenhaus (4)

Von Gepäck & Gefühl

Jeder von uns trägt sein ganz persönliches Gepäck durchs Leben. Und das wird in der Regel nicht vor der Kreißsaaltür abgestellt. Ich meine dabei nicht die Kliniktasche mit Knabbereien, bequemen Klamotten und dem ersten Outfit für das Baby. Sondern das Gepäck, das uns zu dem Menschen macht, der wir sind. Die Erfahrungen, die Begegnungen und Erlebnisse, die unsere Persönlichkeit prägen. Selten sind wir so verletzlich und so sehr bei uns wie während einer Geburt. Es ist also kein Wunder, dass wir besonders für diesen Moment Wünsche und Vorstellungen haben. Wer uns begleiten soll, wo wir uns befinden, wie man mit uns umgeht. Und dann kommt allzu oft alles ganz anders…
Ich weiß nicht, warum die Geburt von Frau S. im Geburtshaus ab einem bestimmten Punkt nicht weitergehen wollte. Ich kann nur mutmaßen, warum sie befürchtete, wir würden direkt einen Kaiserschnitt machen wollen. Und warum ihr Baby letztendlich spontan geboren wurde und in einer ähnlichen Situation bei einer anderen Patientin ein Kaiserschnitt nötig ist, lässt sich auch nicht immer logisch erklären. Warum Frau S. hilflos wirkte und andere Frauen unter der Geburt völlig in sich ruhen? Warum die eine Patientin den Hebammen und Ärzten alle Entscheidungen förmlich aufdrängt und die andere uns mit Kampfesmiene ihre Geburtswunschliste entgegenstreckt? Ich weiß es nicht! Was ich weiß, ist, dass auch ich mein Gepäck immer bei mir trage. Wie ich aufgewachsen bin (mit einer Hausgeburtshebammen-Mama), unter welchen Bedingungen ich lerne (in einer Klinik mit einer Kaiserschnittrate weit unterhalb des deutschen Durchschnitts und einer geburtshilflichen Oberärztin, die mit unheimlich viel Engagement im Kreißsaal für die Wünsche der Frauen eintritt)
und nicht zuletzt die Geburten meiner eigenen Kinder beeinflussen, wie ich den Gebärenden gegenübertrete. Dazu kommt noch der kleine „Tagesrucksack“: Wie war der Dienst bisher? Habe ich gemütlich mit den Schwestern Kaffee getrunken? Oder habe ich bisher noch gar nichts getrunken, weil ich seit Stunden zwischen Kreißsaal, Notfallambulanz, postoperativen und onkologischen Patientinnen hin und her renne und das Gefühl habe, alles halbwegs, aber nichts so ganz richtig hinzubekommen. Konnte ich heute Morgen entspannt ausschlafen oder bin ich in Gedanken bei meinen Kindern, die mit Fieber zu Hause liegen, die Nacht zum Tag gemacht haben und bei denen jetzt eigentlich die Mama und nicht die Oma sein müsste.

Nur dann, wenn man sich bewusst macht, dass es für fast jedes Verhalten Gründe gibt, sei es auf Seiten der Patientin oder auf Seiten des Krankenhauspersonals, kann es gelingen auch in angespannten Situationen einen gemeinsamen Weg zu finden.

 

Ende gut, alles gut?

Mittwoch, 5:25 Uhr. Während Frau S. und ihre kleine Tochter sich auf der Station von ihren Strapazen erholen, ist es in Kreißsaal 3 spannend geworden. Bei Frau L., inzwischen 13 Tage über dem errechneten Entbindungstermin, hat die medikamentöse Einleitung angeschlagen und sie hat seit einigen Stunden kräftige Wehen. Der Muttermund ist vollständig und das Köpfchen des Kindes in der Tiefe sichtbar. Leider toleriert das Baby die Wehen nicht so gut. Auf dem CTG sind späte Dezelerationen zu sehen – Herztonabfälle, die nicht parallel zur Wehe sondern verzögert auftreten und ein Zeichen für Sauerstoffmangel sein können. Ist die Plazentareserve fast zwei Wochen nach dem Termin erschöpft? Müssen wir die Geburt vorzeitig beenden oder schaffen Frau L. und ihr Kind das allein? Als ich Frau L. gerade erklären will, dass ich mittels einer Blutabnahme vom Köpfchen des Kindes sichergehen will, dass es die Geburt weiterhin gut verkraftet, beginnt die nächste Wehe. Frau L. kann nicht anders als dem Pressdrang nachzugeben und das Köpfchen tritt tiefer. In diesem Moment fällt die kindliche Herzfrequenz ab und diesmal erholt sie sich auch in der Wehenpause nicht. Auch der schnell gespritzt Wehenhemmer, um die nächste Wehe zu verzögern und dem Kind die Chance zur Erholung zu geben, zeigt keinen Effekt. Jetzt muss alles ganz schnell gehen. Viel Zeit für Erklärungen bleibt da nicht. „Kiwi!“ rufe ich der Hebamme zu und während sie die Beinhalter ans Kreißbett schraubt, nehme ich Frau L.s Hand: „Ihr Baby will jetzt ganz schnell da raus. Ich erkläre Ihnen nachher alles in Ruhe. Jetzt müssen wir uns voll und ganz auf ihr Kind konzentrieren. Bitte vertrauen Sie mir!“ Sie schaut mich mit großen Augen an und nickt, dann sucht ihre Hand den Arm Ihres Mannes.
Ich rufe meine Oberärztin und den Kinderarzt hinzu, Frau L.s Beine werden in die Beinhalter gelegt, die kleine Saugglocke („Kiwi“) wird mir gereicht, ich lege sie an den Kopf des Kindes – Probezug, hält, nächste Wehe abwarten, Blick aufs CTG – Herzfrequenz weiter sehr niedrig – Wehe kommt, bitte mitpressen, Hebamme schiebt von oben mit, ich ziehe und ziehe und…. da! Ich halte einen schwach blinzelnden, sehr blassen Jungen in den Händen. Die Hebamme nabelt ab und wir legen ihn Frau L. auf die Brust. Während er abgerubbelt wird, tritt der Kinderarzt hinzu. „Warum schreit er nicht?“ fragt Frau L. besorgt. „Das muss er nicht!“ antwortet der Kinderarzt. „Sein Herz schlägt kräftig und er atmet gut. Sehen Sie? Er wird schon rosig!“

Geburtsberichte baby Entbindung mamas im interview

Von Verantwortung und Selbstbestimmung

Ein gesundes Kind, Happy End sozusagen. Und doch bleibt ein bitterer Beigeschmack, oder? Einleitung, wahrscheinlich Wehenmittel, dann dieser Ausgang – Angst ums Kind, Rückenlage, Beine oben wie auf dem Gynstuhl, eine Person drückt auf den Bauch, eine zieht von unten am Kind, noch zwei zusätzliche Personen im Kreißsaal, die man nicht kennt… Wo bleibt da die Selbstbestimmung? Spielt Selbstbestimmung noch eine Rolle, wenn es um das Wohl des Babys
geht? Oder vielleicht gerade dann? Es gibt Momente, in denen muss es schnell gehen. Viel häufiger jedoch sind Situationen, in denen man Zeit hat, verschiedene Perspektiven abzuwägen. Situationen, die viel weniger dramatisch, jedoch häufig ziemlich frustrierend sind. Weil man Vorschriften umsetzen muss, von denen man selbst nicht überzeugt ist. Oder weil man versucht nach bestem Wissen und Gewissen aufzuklären und dabei das Gefühl hat, man wird sowieso nur als „der böse Arzt“ wahrgenommen und nichts von dem, was man sagt, kommt an. Weil man, um sich rechtlich abzusichern, den werdenden Eltern alles (!) erklären muss, was rein theoretisch passieren kann, sollten sie sich beispielsweise gegen eine Einleitung spätestens 14 Tage nach dem Termin entscheiden, obwohl man es ganz ganz unangenehm findet, mit einer hochschwangeren Frau über so etwas Furchtbares wie den Tod ihres Kindes zu sprechen. Darüber hinweggehen kann man aber auch nicht: aus rechtlichen Gründen, weil der Chef das so vorschreibt und auch, weil man, je länger man arbeitet, eben auch schon so einiges erlebt hat.

Und so sehne auch ich mich so manches Mal nach Selbstbestimmung. Und nach jemandem, dem ich die Verantwortung übertragen kann. Häufig ist das momentan noch der diensthabende Oberarzt, aber eben nicht immer. Nicht selten müssen im Kreißsaal Entscheidungen schnell gefällt werden und die Verantwortung für diese trage dann ich. Kaiserschnitt jetzt gleich oder kann ich noch warten? Erspare ich der Mutter eine Operation oder riskiere ich damit die Gesundheit des Kindes? Mache ich zur Sicherheit den Kaiserschnitt, hole ein völlig gesundes Kind mit super Werten ohne Anzeichen für einen tatsächlichen Sauerstoffmangel unter der Geburt und muss mich dann fragen, warum ich der armen Frau das jetzt angetan hab? Folge ich stur den Leitlinien und Klinikvorschriften oder umgehe ich diese, weil sich die Gebärende das von mir wünscht? Welche Verantwortung bin ich bereit zu tragen? Was riskiere ich damit?
Tja, so einiges. Selbstbestimmung hin oder her. Selbstbestimmt und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen während der Geburt – davon hält unser Rechtssystem wenig. Wenn eine Frau unter der Geburt einen aus meiner Sicht notwendigen Kaiserschnitt vehement ablehnt, ich diesen deshalb nicht durchführe und das Kind geschädigt zur Welt kommt, wer kann wohl dafür verklagt werden? Ich! Selbst wenn ich ausführlich aufschreibe, worüber ich die Patientin aufgeklärt habe und dass diese dennoch ablehnt. Selbst wenn die Frau selbst unterschreibt, dass sie entgegen der ärztlichen Empfehlungen und auf eigene Verantwortung eine Operation ablehnt…

Und dennoch! Bei aller Verantwortung, die manchmal wirklich schwer wiegt. Bei all den durchwachten Nächten und all den Herausforderungen – körperlichen wie geistigen, professionellen wie persönlichen. Geburtshilfe ist eben auch das, was die Frauenheilkunde unter den medizinischen Fachgebieten zu etwas ganz Besonderem macht. Dieses Ganz-nah-am-LebenSein. Oftmals einfach nur da sein und einem kleinen Wunder beiwohnen zu dürfen. Erste Schreie, erste Augenblicke, erste Atemzüge. Dabei sein zu dürfen in genau dem Moment, in dem aus zwei Menschen eine Familie wird. Dafür möchte ich DANKE sagen!

 

geburt Baby Entbindung Kreißsaal Krankenhaus (2)

Auch wir möchten Danke sagen, für diesen ehrlichen Einblick in den Alltag im Kreißsaal und hoffen das es noch viel mehr Ärzte gibt wie sie!